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"Justiz - aber kindgerecht"

  • Autorenbild: Frederick Lüke
    Frederick Lüke
  • vor 47 Minuten
  • 4 Min. Lesezeit
Bevor der Austausch startete, wurden alle Teilnehmenden aufgefordert, die Bedeutung für kindgerechte Justiz zu formulieren und via Smartphone auf einen Bildschirm zu senden. Grafik: Matthias de Jong / Mentimeter
Bevor der Austausch startete, wurden alle Teilnehmenden aufgefordert, die Bedeutung für kindgerechte Justiz zu formulieren und via Smartphone auf einen Bildschirm zu senden. Grafik: Matthias de Jong / Mentimeter

53 Gäste kamen zum sechsten Fachgespräch unserer Reihe „gelingender Kinderschutz“ am 17. Juni 2025 in den Landtag. Justizminister Benjamin Limbach, Fachanwältin für Familienrecht Carola Rosenberg und Barbara Brune von der Ärztlichen Beratungsstelle Bielefeld (psychosoziale Prozessbegleitung) standen für fast zweieinhalb Stunden Rede und Antwort. Norika Creuzmann  MdL und Dagmar Hanses MdL moderierten die zahlreichen Fragen.


Justizminister Benjamin Limbach


Bevor es in den Austausch ging, hatten die Referent*innen das Wort. Es sei schwierig, den besonderen Bedürfnissen von Kindern gerecht zu werden, begann Limbach – und sie sollten so wenig Kontakt zur Justiz haben wie möglich. Falls aber doch, dann benötigt man kindgerechte Räume, die Einfluss auf ihr Wohlbefinden haben. Kinder müssen ernst genommen werden, nur so können wir ihre Aussagen richtig verwerten. In rund 50 Gerichten stehen kindgerechte Vernehmungsräume zur Verfügung. Angesichts von 200 Gerichtsstätten sei deutlich Luft nach oben. Hamm ist ein gutes Beispiel, gar eine perfekte Situation. Hinzu kommen audiovisuelle Vernehmungstechniken, es gibt 144 mobile Systeme als Kofferlösungen. Leider spielt die Kindgerechtigkeit im Studium keine Rolle. Es besteht keine Fortbildungspflicht für Richter, die auf ihre Unabhängigkeit pochen. Das Echo des Fachgesprächs nimmt er darum gerne mit in die Richterschaft. Die psychosoziale Begleitung ist nicht mehr wegzudenken, betonte Limbach. Wichtig ist auch der familiensensible Strafvollzug. Es sind kleine Dinge, die viel bewirken können, zum Beispiel neue Besuchsräume. Dies kann helfen, die soziale Bindung zwischen dem Inhaftierten und den Kindern zu stärken. Beim Jugendstrafvollzug muss auf erzieherische Bedarfe geschaut werden. Limbach kündigte für das kommende Jahr eine Themenwoche der kindgerechten Justiz an.


Barbara Brune, psychosoziale Prozessbegleitung


In den 25 Jahren ihrer Tätigkeit als psychosoziale Prozessbegleiterin erlebte Barbara Brune nur eine Videovernehmung sowie eine richterliche Vernehmung. Man habe aber Polizisten, die das wirklich gut machten.  Die Psychosoziale Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Strafverfahren ist ein relativ neues, aber wichtiges Instrument zum Schutz besonders vulnerabler Opfer, sie ist in Deutschland seit dem 1. Januar 2017

gesetzlich verankert und ein wichtiges Angebot, um die Rechte der Betroffenen zu stärken. Damit soll vor allem die individuelle Belastung der Kinder und Jugendlichen reduziert und damit die Gefahr von Retraumatisierungen abgemildert werden. Sie wird vom Gericht beigeordnet und ist kostenlos, ersetzt nicht die Anwältin oder den Anwalt und auch keine Therapie. Die Prozessbegleiter:innen begleiten die Kinder und Jugendlichen zur polizeilichen Anhörung, informieren altersgemäß über die Rechte der Kinder und Jugendlichen, den Ablauf eines Strafverfahrens und über die Aufgaben der beteiligten Personen an einer Gerichtsverhandlung, sie sprechen mit den Kindern und Jugendlichen über eventuelle Ängste und Befürchtungen und sind Vertrauenspersonen, die durchgängig ansprechbar sind. Sie sitzen bei der Zeugenaussage neben dem Kind oder Jugendlichen und achten auf seine Bedürfnisse. Eine vertrauensvolle Begleitung gibt Sicherheit. Auch Eltern erhalten eine umfassende Beratung. Diese professionelle Unterstützung entlastet das Bezugssystem (Familie) emotional und organisatorisch und stabilisiert dadurch ebenfalls die Betroffenen. Im Anschluss an die Vernehmung können Erfahrungen und Eindrücke und später das Urteil erklärt und besprochen werden. Es gibt ein fehlendes Verständnis im Justizsystem, so Brune. In Bielefeld sind die Psychosozialen Prozessbegleiter:innen gut vernetzt mit anderen Beratungsstellen, Polizei, Justiz, Nebenklagervertreter:innen und Medizin. Es gibt diverse Arbeitskreise, alle Beteiligten sind absprachefähig und absprachewillig. Polizei und Justiz informieren Betroffene noch nicht immer konsequent über das Recht auf Begleitung. Ihre Forderungen: Zeug:innensschutzzimmer in allen Gerichten, bessere kindgerechte Gerichtsverfahren, richterliche Anhörung im Ermittlungsverfahren, richterliche Videovernehmung in der Hauptverhandlung, mehr interdisziplinäre Austauschformate, Vermeidung von Mehrfachbefragungen durch bessere Koordination, Fortbildungen für alle am Prozess beteiligen sowie eine angemessene Vergütung. Sie PSPB funktioniert dort gut, wo sie bekannt, etabliert und gut vernetzt ist. Es werden aber dringend mehr Ressourcen, eine Verfügbarkeit und eine Standardisierung benötigt, um flächendeckend wirksam zu sein.


Karola Rosenberg, Fachanwältin


Der juristische Alltag wurde von Karola Rosenberg dargestellt. Sie begann mit einem Lob: Man habe eine funktionierende, kindgerechte Rechtsprechung. Nur der Weg dahin sei ein Abenteuerland. Ihr Beispiel verdeutlichte diesen Weg: Eine getrennte Mutter möchte mit ihren Kindern umziehen, und zwar weit weg. Wegen des gemeinsamen Sorgerechts geht dies nicht ohne Zustimmung des Vaters. Also stellt sie einen Antrag auf Aufenthaltbestimmungsrecht. Die Frage lautet nun, was dem Kindeswohl am besten entspricht. Dabei ist klar: Familienrecht hat keinen Bestrafungscharakter, es gibt kein Umzugsverbot. Müttern werde regelmäßig Bindungsintoleranz unterstellt – ein Begriff, der später noch zu vielen Nachfragen der Besucher*innen führte. Selbst bei schwerer häuslicher Gewalt gegen die Mutter wurde bereits Bindungsintoleranz vorgeworfen. Das geht hin bis zu psychologischen Gutachten wegen posttraumatischer Belastungsstörungen, bevor der Umzugswunsch geprüft wird, obwohl ihre Erziehungsfähigkeit nicht in Zweifel steht. Bei Verdacht sexueller Gewalt wird der Mutter unterstellt, sie habe dem Kind falsche Erinnerungen suggeriert. Ein solches Verfahren birgt im Rahmen der gesetzlichen Gebühren 850 Euro, so dass nur wenige Anwält*innen solche Verfahren übernehmen: Kinderschutz wird zur Frage des Geldbeutels. Man brauche nicht mehr Gesetze, sondern, dass die bestehenden Gesetze richtig angewandt werden, so das Credo der Fachanwältin: Kindeswohl statt Bauchgefühl, Rechtsstaat statt Schuldzuweisung. Ihre Forderung: Man brauche eine Fortbildungspflicht für Richter*innen.


Fragen und Reaktionen


Diese Forderung griff Limbach sogleich auf: Mancher seiner Vorgänger habe ihm bereits gesagt, dass man diese Fortbildungspflicht brauche. Die Baustelle sei erkannt, man verlange von den Richtern ja auch schließlich das zweite Staatsexamen, so Limbach. Dies nehme er aus dieser Runde mit: Er will die Bereitschaft für Fortbildungen wecken und fördern. Auf der anderen Seite sind die Nachweise über Fortbildungen und Supervisionen bei den Zertifizierungen der psychosozialen Prozessbegleitung verpflichtend, schob Barbara Brune ein.

Rainer Rettinger, Geschäftsführer des Landesverbandes der Pflege- und Adoptiveltern (PAN) brach eine Lanze für die Pflegefamilien: Sie würden oft nicht angehört und müssten mit privatem Geld die Rechte der angenommenen Kinder mithilfe von Anwälten durchsetzen. Dabei werde klar, dass viele familiengerichtlichen Verfahren sich eben nicht am Kindeswohl orientierten. In die gleiche Kerbe schlug ein junger Mann, der sich als Pflegekind mit einer Behinderung zu erkennen gab: Er werde nicht berücksichtigt und beiseitegelegt. Sein Vorschlag: Maßnahmen wie für den Opferschutz auch für den Kinderschutz einzuführen. Für seinen Mut bekam er deutlichen Applaus und viel Lob.

Gegen eine verpflichtende Mediation vor Verfahren sprach sich Karola Rosenberg mit Nachdruck aus. Dort gebe es keinen Schutz und keine Waffengleichheit. Das unterstich auch der Justizminister: Mediationen hält er für einen Riesengewinn, sie dürften aber keine Pflicht sein, weil sie unter Umständen zu einer Retraumatisierung würden könnten.

Dieses Thema wollen wir fortsetzen, so unser Fazit zum Ende des Fachgesprächs. Insbesondere die besonderen Belange der Pflegeeltern wollen wir aus der großen Gemengelage herausarbeiten.


 
 
 

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