K.I.D.S.: Wenn das Jugendamt auch Schlafplätze bereithält
- Frederick Lüke
- 7. Apr.
- 4 Min. Lesezeit

„K.I.D.S.“ steht für „Kinder in Detmold schützen“. Es ist aber weit mehr als eine bloße Außenstelle des Detmolder Jugendamtes. Bei K.I.D.S. handelt es sich um eine äußert effektive Verteilung von Aufgaben, um die Einbindung von Eltern und auch um zwei Plätze für Inobhutnahmen im Kinderschutzhaus. Bürgermeister Frank Hilker und Jennifer Sonneborn, Leiterin des Fachbereichs 2 (Jugend, Schule Sport), erläutern im Gespräch die Konstruktion, „mit der wir Fach- und Finanzeffekte erzielen“, so Hilker.
"Die Suche nach einem Platz setzt das System außer Gefecht"
Die Aufgaben eines Jugendamtes sind nicht immer einfach. „Was belastet unsere Mitarbeitenden am meisten?“ lautete die Frage, die sich beide stellten. Die Antwort: Die Suche nach Unterbringungsmöglichkeiten bei einer Inobhutnahme. „Die Suche nach einem geeigneten und bedarfsgerechten Platz setzt das System außer Gefecht“, weiß Jennifer Sonneborn aus Erfahrung. Das bedeutet durchschnittlich einhundert Mal im Jahr, dass der Kommunale Soziale Dienst (KSD) Minderjährigen aus der Not heraus in Jugendhilfeeinrichtungen oder zu Pflegeeltern vermitteln muss. Darum schuf die Stadtverwaltung in einem ersten Schritt eine Stelle, die ausschließlich für diese Recherche und die Suche freier Plätze zuständig war. Damit gingen sie ein Kernproblem an, denn vorher waren viele Mitarbeitende mit der Suche nach freien Plätzen beschäftigt. Erschwerend kommt hinzu, dass junge Studierende in ihrer Ausbildung nicht genug vorbereitet werden und oft nicht wissen, was Kinderschutz eigentlich bedeutet.
"Wer will das aushalten?"
Der zweite Schritt, den Hilker und Sonneborn gemeinsam mit der Jugendamtsleitung Renate Berger gingen, war die Bildung eines Kinderschutzfachteams. „Wir haben den 8a Bereich aus dem KSD herausgenommen“, erklärt die Fachbereichsleiterin. Wenn die Meldung einer möglichen Kindeswohlgefährdung eingeht muss dieser schnellstens nachgegangen werden. Das führte dazu, dass alle Mitarbeitenden in einer ständigen inneren Habachtstellung waren:. „Wer will das aushalten?“, identifiziert Jennifer Sonneborn eine entscheidende gefühlte Belastungssituation. Dieses Team bildet eine Interventionsgruppe, die tätig wird, wenn Meldungen einer möglichen Kindeswohlgefährdung eingehen. Mit der Übernahme dieses Arbeitsbereichs durch ein spezialisiertes Team werden Kolleg*innen, die in der Fallbetreuung im KSD eingesetzt sind noch einmal entlastet und somit können fest eingeplante Termine wie Gerichtsbesuche, Fach- oder Hilfeplangespräche zuverlässig wahrgenommen werden. Die Folge dieser Neuorganisation: Es gibt kaum noch Fluktuation, „niemand geht mehr, auf Grund unzureichender Arbeitsbedingungen“, so Sonneborn. Zudem gibt es kaum noch Dienstaufsichtsbeschwerden. Derzeit werden die notwendigen Schnittstellen zwischen dem Kinderschutzteam und dem KSD weiterentwickelt. Dies geschieht in wöchentlich stattfindenden Arbeitsformaten in denen die Zusammenarbeit immer wieder analysiert und konkretisiert wird, sowie weitere Fachdisziplinen einbezogen werden.
Gefährdungsstufen "gelb" und "rot"
Bei der Beurteilung von möglichen Kindeswohlgefährdungen gibt es verschiedene Gefährdungsstufen. Das Jugendamt Detmold arbeitet auf der Grundlage, dass auch wenn die erste Einschätzung zu dem Ergebnis kommt, dass die Gefährdungslage eher niederschwellig anzunehmen ist, alle Familien besucht werden und alle Kinder und Jugendlichen, die zu dem Familiensystem gehören gesehen und gesprochen werden.
Farbliche Markierungen wie z.B. der gelbe Bereich helfendem Jugendamt bei der Unterscheidung der Fälle: „Gelb“ beschreibt eine Stufe in der noch andere Netzwerke außerhalb des Jugendamtes greifen können. Die Stufe „rot“ beschreibt alle Fälle, in denen eine akute Gefahr besteht und eine Inobhutnahme erfolgt. Es handelt sich jedoch nicht bei allen Inobhutnahmen um eine akute Situation. Dann werden viele Fragen rund um die Inobhutnahme geklärt – und das weit schneller als früher. So lag vor K.I.D.S. eine durchschnittliche Dauer für die Klärung bei 39 Tagen und erst dann stand fest, ob eine stationäre Einrichtung oder eine Pflegefamilie gefunden werden muss - oder ob das Kind oder der bzw. die Jugendliche zurück in die Familie kann. Bei diesem Prozess unterstützt die Methode der Sozialpädagogischen Diagnostik. Über diese Diagnostik wird geklärt, was bisher systemisch für das Kind gemacht wurde. Seit dem 1. September 2024 verzeichnete das Jugendamt Detmold 17 Fälle, bei denen die Dauer der Klärung nur noch im Schnitt neun Tage betrug. In sechs Fällen erfolgte eine Rückführung in die Familien und in vier Fällen sogar noch am gleichen Tag – „ein totaler Erfolg“, freut sich Bürgermeister Frank Hilker.
Keine Kids auf dem Flur: Betriebserlaubnis für Schlafplätze
Was er und Jennifer Sonneborn unbedingt vermeiden wollten, waren Kinder, die im Flur eines Jugendamtes auf die Klärung der Erwachsenen warten müssen. Darum wurde ihnen vor zwei Jahren klar, dass die Stadt Detmold eine Betriebserlaubnis für Schlafplätze benötigt. In einer eigens eingerichteten Außenstelle des Jugendamtes sollen zwei Kinder und/oder Jugendliche übernachten dürfen. Dafür wurde K.I.D.S. als eigene Einrichtung gegründet, um ohne Hürden Kinder in Notsituationen in einem kindgerechten, freundlichen Ort zu versorgen. Aufgeteilt ist es in die beiden Bereiche „K.I.D.S. stationär“ und in das Kinderschutzteam. 4,77 Vollzeitäquivalente sind nötig, um eine 24/7-Betreuung zu gewährleisten. Nach einer Beratung mit dem Landesjugendamt wurden erste Schritte eingeleitet, um das Projekt zu verwirklichen. Denn schnell wurde klar, dass das Jugendamt die gleichen Schritte einhalten muss wie ein freier Träger der Jugendhilfe, um eine Betriebserlaubnis für Inobhutnahmeplätze zu erhalten. Jedoch muss das Jugendamt im Gegensatz zu den freien Trägern alle Kinder und Jugendliche aufnehmen und bedarfsgerecht unterbringen. Gleichwohl bekam es die Stadtverwaltung hin – verbunden mit der Erkenntnis: „Unser starres System der Jugendhilfe passt nicht mehr in die Bedarfe“, so der Behördenchef.
Stufe vier: Eltern erarbeiten ihre Hilfe selbst
„Unsere vierte Stufe ist die ambulante Arbeit“, fährt Jennifer Sonneborn ihren Bericht über die Neuorganisation des Jugendamtes fort. Eine Idee ist die Gründung so genannter Familienräte . Dabei handelt es sich um ein moderiertes Selbsthilfegremium. Unter anderem wird dort die Frage geklärt, was die Familie selber tun kann, dafür steht eigens ein Elternzimmer zur Verfügung. „Hier erarbeiten die Eltern ihre Hilfe selbst. Das führt zu einer hohen Akzeptanz“, bilanziert Sonneborn. Mitunter hilft es schon, wenn ein Jugendlicher einfach mal für eine Nacht im K.I.D.S. schlafen darf, um einen familiären Konflikt zu entzerren, zumal sich junge Menschen im Alter zwischen 14 und 18 meistens selbst melden, weil sie mal aus ihrem Umfeld raus müssen – „das verhindert langfristige stationäre Unterbringungen “. Die Schlafstätte im K.I.D.S. ist auch bei der Suche nach einem Platz bei einem freien Träger der Jugendhilfehilfreich: „Wenn wir wissen, dass erst in zehn Tagen ein solcher Platz frei wird, können wir den Umzug anbahnen“, so Sonneborn. Die Folge: „Viele unserer Mitarbeitenden können sich unsere Arbeit ohne K.I.D.S. gar nicht mehr vorstellen“.
48 000 Euro gespart
Auch finanziell lohnt sich Umstrukturierung: In den Monaten September bis Dezember 2024 wurden 48 000 Euro eingespart. „Wir wollen uns am Produkt messen lassen“, blickt Hilker auf den Weg in der Jugendhilfe, den die Stadt Detmold als eine der ersten Kommunen bundesweit eingeschlagen hat. Sein Wunsch lautet nun, dass ihm das Landesjugendamt bei seinem Pionierprojekt mehr den Rücken stärken würde.
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