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"Manche Kinder wachsen nicht gut auf"

 Ziehen ein gutes Fazit des Qualitätsentwicklungsverfahrens (v.l.): Petra Hillmer (Abteilungsleiterin Jugendhilfeplanung), Melanie Struck (Sozialbezirksleiterin) und Anne Teubert Amtsleiterin des Stadtjugendamtes Paderborn. Foto: Lüke

 

Paderborn. Es ist ein reiner Zufall, dass der Besuchstermin im Paderborner Stadtjugendamt mit der Veröffentlichung der WDR-Reportage über die Situation in den Jugendämtern auf den gleichen Tag fällt. Anne Teubert, die das Amt seit eineinhalb Jahren leitet, und ihre Kolleginnen Petra Hillmer und Melanie Struck, können die dargestellten Herausforderungen an die Jugendämter unterstreichen. In unserem über zweistündigen Gespräch strahlt das Team viel Energie und vor allem Veränderungswillen aus.

 

"Nirgends so gute Bedingungen wie in Paderborn"


„Ich habe in vielen Jugendämtern gearbeitet, aber nirgends so gute Bedingungen erlebt wie in Paderborn“, beginnt Anne Teubert das Gespräch. Dennoch spiele die auskömmliche Finanzierung der Jugendämter eine entscheidende Rolle. „Es kann ja nicht sein, dass wir ein Kind nicht mehr in Obhut nehmen können, weil ein Budget aufgebraucht ist“, macht sie klar. Eine Budgetierung würde sie darum für schwierig und gefährlich halten. Zudem fehlten Inobhutnahme-Plätze. Ihr Ansatz: Die Jugendämter müssen ganz nach jeweiliger Größe und Bedarf die Wahlfreiheit für ihre Organisationsstruktur haben und gleichzeitig eine Finanzierungssicherheit. Ein wichtiger Player sei dabei der örtliche Jugendhilfeausschuss: „Es gelingt uns, unsere Probleme und Herausforderungen für die politischen Gremien zu übersetzen“, lobt sie die gute Zusammenarbeit in der Stadt Paderborn.


Dabei beim Pilotprojekt Qualitätsentwicklungsverfahren

 

Stolz ist das Team auf die Teilnahme am Qualitätsentwicklungsverfahren – einem bundesweit einmaligen Konzept, das in NRW im Auftrag des Familienministeriums über eine Pilotphase eingeführt wurde. Die Stadt Paderborn war Anfang 2024 mit dabei. „Wir haben uns mit Schnittstellenmanagement beworben“, so Melanie Struck. Denn: „Wir haben ein Kommunikationsdilemma“. Es finde zwischen Behörden aus Gründen des Datenschutzes kein Aktenaustausch statt. Dabei sei beispielsweise nach einer Kindeswohlgefährdung eine weitere Begleitung sinnvoll, insbesondere wenn danach neue Themen entstanden sein sollten. Wichtig sei darum eine Vernetzung mit den jeweiligen Sozialträgern. „Das Verfahren hat Spaß gemacht, der Mehraufwand hat sich gelohnt. Wir haben gelernt, anders auf unsere Arbeit zu gucken und auch mal einen blinden Fleck zu entdecken“, so Melanie Struck. Eine Qualitätsverbesserung sei darum auf die Personalzahlen herunterzubrechen. Eine auskömmliche Personalausstattung sei unabdingbar. Mit Blick auf die diskutierte Fachaufsicht der Jugendämter erklärt Melanie Struck, dass es ja schon beratende Organe in den Landschaftsverbänden gebe. Aber: „Der LWL ist weit weg“, er liefere eine gute strukturelle Beratung, nicht aber eine Detailberatung.


Vision: Ein System der Zertifizierung

 

„Ich habe eine Vision“, blickt Anne Teubert in die Zukunft. Anstelle einer Fachaufsicht würde sie ein System aus Zertifizierung und regelmäßiger Rezertifizierung vorziehen. Sinnvoll wäre es, die  Jugendhilfeplanung mit Stellenanteilen für Qualitätsmanagement und Sozialplanung zu vervollständigen. Sie ist für einen Paradigmenwechsel in den Jugendämtern: Beispiele von Organisationsstrukturen aus der Wirtschaft können angewendet werden. Es gelte, wegen der wachsenden Zahl an Aufgaben Synergieeffekte zu nutzen. Gleichzeitig müssen diese Veränderungsprozesse auch finanziert werden.


"Ist das noch Jugendhilfe?"

 

„Es fehlen bundesweit Inobhutnahme-Plätze für Kinder und Jugendliche, wenn diese wegen einer Kindeswohlgefährdung aus den Herkunftsfamilien genommen werden müssten. Die Jugendhilfe wird zudem zunehmend mit Fällen konfrontiert, bei denen man sich fragt: „Ist das noch Jugendhilfe?“, sagt Anne Teubert. Intensivstraftäter*innen, junge Menschen mit schweren Traumata und psychischen Erkrankungen, die mit pädagogischen Mitteln nicht erreichbar sind: Bei den so genannten Systemsprengern laufe es am Ende auf eine Individualbetreuung hinaus, die viele Ressourcen bindet und sehr teuer ist. „Und manche Länder halten noch nicht mal geschlossene Einrichtungen vor, auch wenn die Gerichte diese anordnen“.


Sleep-In-Plätze im Stadtgebiet


Um zumindest einige Inobhutnahme-Plätze zu schaffen, plane das städtische Jugendamt in Kooperation mit zwei Trägern die Schaffung von Plätzen im Stadtgebiet. Angedacht seien zum einen sog. Sleep-In-Plätze, die obdachlosen Jugendlichen als niederschwelliges Angebot der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden könnten.  „Insbesondere obdachlose Mädchen sind von sexueller Gewalt bedroht“, weiß Anne Teubert aus Erfahrung. Daneben sollen in einem von der Stadt erworbenen Gebäude weitere generelle ION-Plätze geschaffen werden.


Schulsozialarbeit fängt viel auf


Damit es möglichst gar nicht erst zu einer Inobhutnahme oder gar Obdachlosigkeit von Kindern und Jugendlichen komme, sei eine frühzeitige Hilfestellung und rechtzeitige Unterstützung notwendig. Hier fange z.B. die Schulsozialarbeit viel auf. In der Jugendhilfe habe sich einiges positiv verändert, so Anne Teubert. Dennoch gelte nach wie vor: „Manche Kinder wachsen nicht gut auf“.

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